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Leben

Fragen

die luke zum dachboden öffnet sich nur widerwillig und mit viel krach. nach erfolgreichem hochgekracksel (die sprungfeder muckt mächtig auf) knie ich endlich oben im halbdunkel. es riecht nach staub und vergilbtem papier. und leise ist es hier, fast schon gruselig leise. vor mir lugt ein stück gelbe, der folienverpackung entwichene mineralwolle um die ecke.

die nächsten vier stunden verbringe ich mit einer bestandsaufnahme der dinge, die im laufe der dreißig jahre, die meine eltern dieses haus nun schon bewohnen, überall fehl am platz waren und deswegen unter das dach verfrachtet wurden. ich wühle mich durch truhen und koffer und wellpappkartons, finde längst verloren gedachte und seit jahrzehnten weitervererbte familienstücke, meine alte briefmarkensammlung, wachsmalbilder aus dem kindergarten. auffällig viele dinge sind darunter, die ich wahrscheinlich schon längst entsorgt hätte. großen emotionalen wert besitzen sie wohl noch besonders für meine mutter.

die meisten in kisten verpackte gegenstände gehörten allerdings einstmals meiner heißgeliebten großmutter. porzellan von der schwiegermutter, plastikbecher aus den siebzigern, schulhefte aus den späten zwanziger jahren mit schreibübungen in sütterlinschrift. ein seltsam nostalgisches gefühl beschleicht mich. 

in die hände fällt mir ein graubraunes buch über schatthausen von 1955; der einband zeigt ein wappen mit einem anker; chronik der gemeinde schatthausen steht darauf geschrieben. aus dem kleinen dorf in der nähe von heidelberg, das in den siebziger jahren nach wiesloch eingemeindet wurde, stammt meine familie väterlicherseits ursprünglich; landwirtschaft haben sie dort betrieben. ich überfliege sporadisch einzelne kapitel; die chronik ist kurz gehalten, aber dennoch umfangreich und nicht zuletzt hier und da mit einer gehörigen portion pathos und schmalz versehen. so heißt es auf den letzten seiten:

V e r s u n k e n ist im Laufe der Jahrhunderte mancher Ort und mancher Hof […]. Wo einst fleißige Bauern den Pflug führten, rauscht heute der Wald sein geheimnisvolles Lied und nur der Brunnen träumt weiter wie in alten Zeiten. […]

Schatthausen blieb bestehen. Hat es auch keine Paläste, war es auch nicht der Schauplatz oder Ausgangsort welterschütternder Taten, so birgt es doch, wie die Geschichte des Ortes zeigt, eine gesunde Volkskraft, die leistungsfähige Menschen noch und noch nach außen abgeben kann. Große Menschen findet man überall, auch in stillen Tälern und auf einsamen Gehöften. Und Schatthausen hatte Gutsherren, Schultheißen und andere tüchtige Männer, die das innere Gefüge der Gemeinde ausbauten und in Ordnung hielten.

Alle Lasten konnten die urwüchsigen, beweglichen Bewohner unseres Ortes nicht klein kriegen. Immer wieder schlug das Pfälzer Temperament durch im Blick auf den Anker, das Symbol der Hoffnung im G e m e i n d e s i e g e l […].

So schließen wir diese Niederschrift mit dem Wunsche: scheine weiter, goldene Sonne, über dem Land der Väter, u n s e r e r H e i m a t.

diese kurpfälzer!, denke ich mir im stillen, und will die gemeindechronik gerade wieder zur seite legen, als der hintere klappendeckel ein grünes büchlein freigibt. elf seiten umfasst es und trägt den titel der gletscherschliff bei mittenwald. nun sind allerdings in der kurpfalz wahrlich keine gletscher erhalten (jedenfalls nicht, dass ich wüsste, und manchmal weiß ich sehr wenig), und ich frage mich, wer wann dieses büchlein erworben hat. ein mitbringsel ist es wohl gewesen, oder ein souvenir aus dem urlaub. auch hier eine besonderheit in bezug auf den hinteren klappendeckel; in der handschrift meines vater steht dort mit blauem kugelschreiber geschrieben: „Für Schneider mit Äpfel [sic] füllen und ins Geschäft bringen“.

in der mitte des büchleins liegen ein fotoabzug und fünf postkarten, alle in schwarzweiß gehalten. das foto zeigt das innere eines gastraumes; darauf zu sehen sind menschen an vollbesetzten tischen, die den gläsern und flaschen zu urteilen alkoholische getränke vor sich stehen haben. einige männer haben die arme auf den stuhllehnen ihrer sitznachbarinnen platziert; letztere tragen wiederum hochtoupierte steckfrisuren und betty-geröllheimer-haarschnitte. ich habe keine ahnung, wer diese menschen sind, woher sie kamen, wer sie fotografierte.

bis auf die zwei beschrifteten ansichtskarten (eine, laut poststempel am 2.8.64 verschickt in wallgau, von meinem großonkel rudi; „Liebe ‚Hinterbliebenen‘, viel zu schnell gehen unsere schönen Tage hier zu Ende“, schreibt er mit einem augenzwinkern), müssten alle karten aus den fünfziger jahren stammen; die älteren postkarten sind unbeschriftet. eine zeigt dieses bild der albergo vor dem sasso di stria, die zweite das hotel des alpes in cortina. die dritte unbeschriftete ist eine multiview-karte; „gruß aus der lautaschklamm“ ist vorne über eine edelweißzeichung gedruckt, auf der rückseite klebt eine briefmarke über 15 pfennig aus dem briefmarken-jahrgang 1964. dass meine großmutter mit (oder ohne?) meinen vater in den fünfzigern (oder wohl doch sechzigern wie die briefmarke beweist?) womöglich in die alpen verreist ist, wäre mir neu. ich erinnere mich an erzählungen von teneriffa und der adria; immer war irgendein meer involviert. bayern? österreich? da gibt’s doch gar kein meer.

(ich war nur ein einziges mal mit meinen eltern und meiner großmutter in bayern, und das auch nur, weil ein befreundetes ehepaar dort immer hinfuhr und wir uns zur mitfahrt überreden lassen haben. schön war es trotzdem – mal was anderes als thailand. 1997 war das, ich weiß es noch ganz genau, denn wir fuhren nach einer woche urlaub am 31. august wieder zurück nach hause, just an dem tag, als lady di tödlich verunglückte. meine mutter war deswegen die ganze heimfahrt über niedergeschlagen.)

auf der letzten postkarte sieht man die waldschänke niedernach am walchensee.

schon wieder bayern, schon wieder die alpen. idyllisch schön das ganze, wenn auch das design etwas gewöhnungsbedürftig ist. irgendwas ist off an der bildkomposition.

ich drehe die karte um und benötige ein weilchen, ehe ich die schrift meiner großmutter zu entziffern vermöge. vier zeilen hat sie geschrieben, unvollständige sätze in rotem kugelschreiber, doch bloß an wen? die karte ist unadressiert.

Kind 9 Monate alt tot,
Frau linkes Augenlicht verloren
Mann Kopfverletzung
80zig Einschüsse Garage tor

und mir bleiben viele fragen und niemand, der sie zu beantworten weiß.

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