meine tante inge trinkt gerne kir royal und spielt rommé. eigentlich ist sie meine großtante zweiten grades, aber wir sind da nicht so penibel. vor zwei wochen ist tante inge 90 geworden. sie stammt ursprünglich aus berlin und wuchs bei ihrer omma und ihrem vater auf, nachdem ihre 29jährige mutter 1930 selbstmord beging, indem sie den kopf in den backofen steckte. ihr vater hugo muss ein toller kerl gewesen sein. als junger bursche kellnerte er sich durch europa. in einem hamburger hotel nahm ihn ein weiblicher gast beim servieren nackt in empfang. „ob er die einladung anjenomm‘ hat, dit weeß ick nisch“, sagt tante inge, „aber dit kann ick mir jut vorstell’n.“ irgendwann in den 40ern hat hugo wieder geheiratet. und dann hatte meine tante inge eine neue mutter, die von allen nur cognac-gerdi genannt wurde. als tante inge 19 war, bekam sie ein schwesterchen von gerdi und hugo, meine tante renate. renate tanzte als kind im kinderballett über die bühnen des friedrichstadtpalasts. später heiratete sie einen amerikanischen soldaten und zog mit ihm nach alabama, wo sie heute wohnungen vermietet. tante inge und hugo blieben in westdeutschland. ihr ding war die gastronomie. sie zogen viel um, 26 mal insgesamt. hier ’ne pommesbude in bochum für acht monate, dann eine gaststube in mannheim. jedes unterfangen mal mehr, mal weniger erfolgreich. irgendwann sind sie dann in den schlossweinstuben auf dem heidelberger schloss gelandet und geblieben. wenn sie nicht arbeiten mussten, sind tante inge und hugo viel gereist. beispielsweise in greyhound bussen von nashville nach new york. oder in 36 stunden mit dem propellerflugzeug nach nairobi. „in’n 60ern war det.“ tante inge hat nie geheiratet und hat auch keine kinder. single war sie trotzdem fast nie. ihren letzten lebensabschnittspartner kannte ich auch. er hieß rudolf, kam aus kaiserslautern und war pensionierter polizeibeamter. immer sehr korrekt und streng und konservativ kam er mir vor, ganz anders als tante inge, die so gerne laut lacht und wahrscheinlich die unvoreingenommenste person ist, die ich kenne. zu ihrer geburtstagsfeier im kleinen kreis kam sie angefahren im silbernen automatikgolf, den sie natürlich noch so lange fahren möchte wie es nur geht. es gab kohlrouladen, ihre leibspeise. und selbstverständlich kir royal und eine partie rommé.
[wenn dieses verrückte leben es irgendwann mal zulässt, transkribiere ich euch die acht stunden gesprächsmaterial, die ich von tante inge habe. wahnsinnig tolle geschichten!]