Ich entstamme einer langen Reihe starker Frauen, und wenn ich meine Familiengeschichte genauer betrachte, muss ich mich wundern, dass es mich überhaupt gibt. So viele Vorfahren, deren Wege sich gekreuzt haben, ganz gleich aus welchen Gründen, aus Nah und Fern und sehr Fern, über Kontinente, Grenzen, Generationen und Jahrtausende hinweg. Und zack, dann gibt’s plötzlich mich. Crazy.
Bei all den starken Frauen, die ich immer hervorhebe, geraten die Männer meist unabsichtlich in Vergessenheit. Vielleicht liegt das daran, dass einige von ihnen so jung starben, dass selbst ihre Kinder sie nur aus Erzählungen kennen. Wie beispielsweise im Falle meines Großvaters väterlicherseits, der kurz vor Kriegsende in einem Waldstück in der Eifel fiel, lange vermisst war, und dessen Überreste auf einem kleinen Soldatenfriedhof in Ormont begraben wurde. Mein Großvater hieß Karl. Er war 28, als er starb. Sein Sohn, mein Vater, war damals noch kein Jahr alt. Auf seiner Grabplatte machten sie Karl aus versehen zwei Jahre jünger.
Als ich noch zuhause wohnte, sind wir jedes Jahr einmal nach Ormont gefahren. Meine Oma Trudel verlor während der Fahrten in die Vulkaneifel anders als üblich nur sehr wenige Worte. Sie sprach auch dann noch nicht, wenn sie sich bei mir unterhakte und wir gemeinsam den kurzen moosbewachsenen und von Bäumen gesäumten Weg zum Friedhofstor hinaufstiegen. Karl und Trudel müssen sich sehr geliebt haben.
In den letzten zehn Jahren, meine Großmutter war mittlerweile auch verstorben, fuhr ich mit den Eltern nur noch unregelmäßig nach Ormont. Terminschwierigkeiten, ich im Ausland, die Krankheit des Vaters, schlechte Wetterbedingungen. Was halt so passiert. Und dabei hatten wir es uns immer fest eingeplant. Inzwischen ist der letzte Besuch auch schon mehr als zwei Jahre her. Diesmal war es mein Vater, der neben mir auf dem Beifahrersitz saß, mit einem Kloß im Hals, und kaum etwas sagte.
Umso mehr freute ich mich kürzlich über zwei Nachrichten, die mich sehr berührt haben. Mein Onkel Rudi aus Konz, der unglaublich toll ist und seit ich denken kann in unserer Familiengeschichte herumgenealogiert, schrieb einen Artikel über Karl (der bereits als „Ein Soldatengrab bei Ormont“ im Jahrbuch Bitburg-Prüm erschienen sein müsste). Ich hatte erst spät davon Wind bekommen, nämlich als er mir einen Entwurf des Artikels zuschickte. (Ich muss ihn mal fragen, ob ich vielleicht wenigstens Teile davon hier veröffentlichen kann. Würde euch das interessieren?) Im Briefumschlag fand ich zusätzlich die Kopie eines Briefes von einem Ormonter Heimatforscher, Herr Blum. Herr Blum und mein Onkel haben sich gegenseitig bei ihren Recherchen unterstützt; ersterer hat meinem Großvater im Sommer zum Geburtstag ein paar Blumen auf dem Friedhof vorbeigebracht. Nachdem ich mich per Mail bei Herrn Blum bedankt hatte, bekam ich folgende Antwort:
Als Kind hatte ich schon eine besondere „Beziehung“ zu unserem Ehrenfriedhof. Es liegt da ja ein Gästebuch sowie eine Liste aller dort bestatteten Menschen aus. In meiner Naivität habe ich diese Namensliste damals mit nach hause genommen und sie komplett abgeschrieben. Ich dachte, wenn die Liste mal verloren geht, dann habe ich die Namen noch erhalten. Natürlich brachte ich die Liste wieder an ihren Platz zurück.Ich wohne keine fünf Minuten vom Friedhof entfernt und mindestens einmal in der Woche führt mich ein Spaziergang dorthin. Ich mag die Ruhe dort. Seit Jahren fragte ich mich ständig, was mögen das für Menschen gewesen sein, die hier begraben sind. Wer war das, der fern seiner Heimat, in meiner Heimat gestorben ist. Ich hätte liebend gerne etwas über das Schicksal dieser Menschen erfahren. Ich sah immer nur die Grabplatten mit den Namen. Trotz Namen blieben die Personen für mich verborgen.Dann machte ich die Bekanntschaft Ihres Onkels. Das war wahrlich ein glücklicher Zufall, über den ich sehr dankbar bin. Einerseits ist Ihr Onkel ein sehr angenehmer Mensch, und ist ist die pure Freude sich mit ihm zu unterhalten. Anderseits habe ich nun endlich mal eine Geschichte und ein Gesicht zu einer Grabplatte. Rudi hat mir viel über Ihren Großvater und Ihre Großmutter erzählt. Das Schicksal Ihrer Großeltern und Ihres Vaters hat mich sehr berührt. […]Es war auch ein Zufall, dass ich gerade zur gleichen Zeit an einem Buch arbeitete. In diesem Buch finden sich 370 Totenzettel (Sterbebildchen) von Ormonter Bürgerinnen und Bürger. Zu den Totenzettel habe ich auch etwa 200 Fotos der Verstorbenen. Der älteste Totenzettel ist aus dem Jahre 1840 von einem Menschen der 1770 geboren wurde. Und ohne eine Totenzettel von jemanden, der auf dem Ehrenfriedhof bestattet wurde, wäre diese Buch einfach unvollständig. Nun habe ich Ihren Großvater exemplarisch für alle Gefallenen auf dem Ehrenfriedhof, und das finde ich großartig. Auf einer Doppelseite sind jeweils 4 bis 8 Totenzettel, aber Ihr Großvater hat eine Doppelseite für sich alleine!
Unheimlich dankbar bin ich über die Bekanntschaft mit Herrn Blum. Wie verrückt es doch ist, dass die Vergangenheit, und in diesem Falle mein vor 70 Jahren verstorbener Großvater, in der Gegenwart auf unerwartete Weise noch Menschen zusammenbringen kann.