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Leben

Meine liebe Inge (1)

Im März ist meine Tante Inge mit 96 Jahren verstorben. Sie hat mir ein paar Dinge vermacht, darunter viele Ordner und Alben mit Fotos, gesammelten Postkarten und jeder Menge persönlicher Erinnerungen. Tante Inge war nie verheiratet und hatte keine Kinder. Aber sie hatte ein dickes Bündel Briefe aus den 90ern, das sie offensichtlich sehr in Ehren hielt. Wie sich herausstellte, waren die vielen eng mit Sütterlin beschriebenen Blätter Liebesbriefe ihres letzten festen Freundes Rudolf. Beide, soviel weiß ich, lernten sich kennen, als Inge kurz vor 70 und Rudolf kurz vor 80 waren. Inge wohnte im badischen Leimen, Rudolf im westpfälzischen Rodenbach. Wie die beiden sich verliebten, wie sich ihre Liebe wandelte und was sie einander zu sagen hatten, bevor Inge zu Rudolf in die Pfalz zog und ihn bis zu seinem Tode pflegte, lässt sich anhand von Rudolfs Briefen zumindest in Teilen rekonstruieren – und es wäre viel zu schade, diese tolle Liebesgeschichte nicht zu erzählen. Deshalb gibt es hier ab sofort jeden Sonntag eine neue Folge „Meine liebe Inge“, bis alle Briefe und Karten entziffert sind. Im folgenden ersten Brief erfahren wir, dass Rudolf und Tante Inge eine kleine Rentneraffäre in der Kur hatten. Aber wie weitermachen? Freundschaft+? Schnappt euch euer Popcorn – stellenweise wird’s ganz schön anzüglich!


6751 Rodenbach, den 28.7.1991

Meine liebe Inge!

Ein schöner Sonntagmorgen, so verlockend er auch zum Wandern oder zur Radtour einlädt, kann vielmals verzaubert sein, wenn er dazu dient, der geliebten Frau einen Brief zu schreiben. So versuche ich, mich zu konzentrieren, um einiges zu Papier zu bringen, was man am Telefon gemeinhin so nicht sagen kann. Freilich habe ich mir im „grauen Alltag“, der ja nun wieder eingekehrt ist, in Bezug auf unser „Urlaubsverhältnis“ meine Gedanken gemacht. Dabei habe ich so manches bedacht, was in der Euphorie unserer „Flitterwochen“ nicht zur Sprache kam. Ich denke da vor allem an Deine große Zuneigung zu mir, die sich als so außergewöhnlich und auch im Geschlechtlichen so total darstellt, daß ich Angst empfinde, ich könne mit meiner Liebe Dir weit hinterherhinken. Wenn ich nun mit einigem zeitlichen Abstand unsere Situation bedenke und alle Fakten in Betracht ziehe, die für und gegen ein inniges erfreuliches Verhältnis sprechen, so meine ich, wir sollten uns vor allzu großen Illusionen hüten und der Entwicklung unserer künftigen Beziehung gelassen entgegensehen. Dabei bitte ich Dich, zu bedenken, daß ich viel älter bin als Du, und daß ich mit altersbedingten Beschwerden geplagt bin, die sich nicht nur im Bett zu Deinem Nachteil auswirken. Bedenke bitte auch, daß ich in nicht ganz drei Jahren achtzig bin. Es gibt wohl noch einige andere Punkte (z.B. mein Eingebettetsein in meine Familie und damit zusammenhängend die Frage der Pflege im Krankheitsfall), die es sinnvoll erscheinen lassen, nicht voreilig unangemessene Fakten zu schaffen, sondern in Ruhe und Gelassenheit eine zu nichts verpflichtende Freundschaft zu pflegen, deren Entwicklung zum Positiven oder Negativen wir der Zukunft anheimstellen sollten. Ich darf in diesem Zusammenhang auch auf Deinen langjährigen Freund verweisen, dessen Existenz allein schon ein festverpflichtendes Verhältnis zwischen uns beiden unmöglich macht. Eine nur lockere Freundschaft mit Dir aber läßt mich notgedrungen den Nebenbuhler erdulden.

So wollen wir uns, meine liebe Inge, anknüpfend an die schönen Stunden in Bad Krozingen, bald wiedersehen, um unsere Liebe zu leben und glückselig zu sein.

Für all das Schöne, die Freude und die Lust, auch für deine Leidenschaft, mich auf unseren Fahrten in Deinem Auto den herrlichen Schwarzwald erleben zu lassen, danke ich Dir auch noch einmal brieflich recht herzlich. Es war eine erlebnisreiche, glückliche Zeit, die ich nicht vergessen werde. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir in Landau an unsere Liebe in Bad Krozingen problemlos anknüpfen werden; meine Sehnsucht nach Dir bürgt dafür.

Meine liebe Inge, laß mich zum Schluß kommen, denn es ist Zeit, zu meiner ältesten Tochter zu gehen, um den Sonntagsbraten zu genießen. Indem ich dir Gesundheit und alles sonstige Liebe und Gute wünsche, verbleibe ich mit den herzlichsten Grüßen und den in Bad Krozingen in großer Zahl praktizierten süßen ZK. Falls Du diese Abkürzung nicht zu deuten vermagst, so werde ich sie Dir in Landau unter dem Einsatz praktischer Beispiele liebend gern erklären.

Ich möchte schließen mit einem Zitat von Wilh. Busch, das ich am vergangenen Dienstag bei meiner Friseuse in einer Zeitschrift zu Gesicht bekam, und das ich als wirklich zutreffend und wahr erachte: „Denn die Summe unseres Lebens sind die Stunden, wo man liebt“.

Nochmals herzliche Grüße und viele stürmische und auch zarte Küsse

Dein Rudolf